Justitia muss wieder weiblicher werden! - We advance

Justitia muss wieder weiblicher werden!

Kennen Sie Emilie Kempin-Spyri? Sie ist die erste Schweizerin, die sich vor knapp 150 Jahren an der juristischen Fakultät der Universität Zürich immatrikuliert. 1887 promoviert sie mit ‘summa cum laude’ und wird zur ersten Doktorin der Rechte Europas. Toll, eine Prominente, denken Sie vielleicht. Lesen Sie bitte weiter.

Äusserst begabt ist es Emilies grösster Wunsch, Anwältin zu werden, insbesondere deshalb, weil ihr Mann seine Stelle verliert und sie ihre Familie mit den drei Kindern ernähren will. Als Frau besitzt sie aber das sogenannte Aktivbürgerrecht (= Wahlrecht) nicht. Deshalb bleibt ihr das Anwaltspatent verweigert. Konkret kann jeder Aktivbürger (= Mann) auch ohne Ausbildung Anwalt sein, während sie allein aufgrund ihres Geschlechts als Doktorin der Rechte von dieser lukrativen Tätigkeit ausgeschlossen bleibt. Das macht für Emilie – zu Recht! – keinen Sinn. Sie kämpft. Wie eine Löwin setzt sie sich fortan für den Zugang von Frauen zur Advokatur ein.
 
Die Öffnung erfolgt in Zürich schliesslich 1898, schweizweit allerdings erst 1923. Selbst kann Emilie davon leider nicht mehr profitieren. Sie zerbricht am Widerstand, erkrankt und wird aufgrund angeblicher Geisteskrankheit für unmündig erklärt. 1901 verstirbt sie erst 48-jährig, einsam und verarmt in einer Anstalt in Basel. Lange Zeit gerät sie in Vergessenheit.

Was für eine traurige Geschichte, mögen Sie jetzt denken. Tatsächlich! Sie berührt. Sie macht aber auch Hoffnung. Schliesslich ist in den 150 Jahren doch einiges gegangen. Oder? Werfen wir einen Blick darauf, was sich konkret verändert hat:

Aktuelle Zahlen & fakten

  • Seit 2003 ist die Mehrheit der Jurastudierenden weiblich
  • Bei den unter 35-Jährigen finden sich inzwischen mehr Anwältinnen als Anwälte
  • Schaut man an die Spitze, sind es auf Stufe Partnerschaft allerdings nur noch 13,6% Frauen im Schnitt (mit einer Spanne von 5,6 bis zu 30,4% vom tiefsten zum höchsten Wert)

In gut 100 Jahren hat sich der Frauenanteil also von rund 0 auf 13,6% an der Spitze von Anwaltskanzleien erhöht. Immerhin. Geht es Ihnen zu langsam? Dann geht’s Ihnen gleich wie mir. Schliesslich steht Justitia für Gerechtigkeit – und Justitia ist eine Frau. Ein interessanter Zusammenhang, denken Sie nicht? In der gesamten Menschheitsgeschichte ist Rechtsprechung weiblich konnotiert und mit den Insignien Waage und Füllhorn ausgestattet. Nehmen wir sie ernst: Um Recht zu sprechen, sind Ausgewogenheit und Einschluss aller Aspekte absolut zentral. Das geht umso besser, wenn Frauen und Männer gleichermassen in Positionen mit Macht und Einfluss vertreten sind.

Flexibilität, Offenheit und Agilität sind die Ingredienzen für Geschlechterdiversität in Anwaltskanzleien

Was gilt es zu tun: An der Basis sieht es hervorragend aus. Die Pipeline ist mit Juristinnen und Anwältinnen gut gefüllt. Fragt sich nun, was es braucht, damit wir wirklich mehr talentierte Frauen an der Spitze sehen. In den Worten von Ruth Bader Ginsburg: «Frauen gehören in alle Posten, in denen Entscheidungen getroffen werden. Frauen dürfen nicht die Ausnahme sein.»

Um das zu erreichen, braucht es weibliche Vorbilder wie Richterin Bader Ginsburg und Emilie Kempin-Spyri. Zeitgenössische finden Sie in der Ausgabe ‘Fokus Rechtsguide’ (Tagesanzeiger 28. Mai 2021) übrigens jede Menge. Vor allem aber braucht es ein Umdenken und Ausbrechen aus alten Denkmustern. Ambitionierte Frauen gehören nicht in die Schublade der ‘Rabenmütter’ oder ‘ungeliebter Karrieristinnen’, genauso wenig wie der Anwalt/Vater, der um 16 Uhr die Kanzlei verlässt, um seine Kinder zu betreuen, eine ‘ruhige Kugel’ schiebt. Flexibilität, Offenheit und Agilität sind die Ingredienzen für den Wandel hin zu Gender Equality, der von Klientinnen und Klienten im Übrigen immer stärker gefordert wird.
 
Nehmen wir diese Lektüre zum Anlass, noch bewusster ins neue Zeitalter aufzubrechen. Ein Zeitalter des gleichberechtigten Beitragens, der gleichgestellten Teilhabe und der Chancengleichheit! Alles andere macht aus wirtschaftlicher, gesellschaftlicher wie auch aus menschlicher Sicht schlicht und ergreifend keinen Sinn. – Sorgen wir dafür, dass Justizia wieder weiblicher wird.


Dieser Artikel erschien im Fokus Rechtsguide im Tagesanzeiger vom 28. Mai 2021.

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